Wo möchte ich arbeiten? Wie soll meine Zukunft aussehen? Was für Ziele habe ich? Diese und andere Fragen stellte sich Sarah-Charline Meiners nach ihrem abgeschlossenen Journalistik-Studium im Sommer 2016. Ein Lebensabschnitt war zu Ende gegangen und sie musste sich für den nächsten Schritt entscheiden: Ein Master-Studium? Oder ein erster Job? Sie brauchte Ruhe zum Nachdenken – der perfekte Zeitpunkt für eine Pilgerreise auf dem Jakobsweg. Auf VIAMIE erzählt sie uns, was sie dabei erlebt und welche Erkenntnisse sie gewonnen hat.
Es war tatsächlich der Film über Hape Kerkeling als Pilger – seine Erfahrungen und Erlebnisse –, der bei mir das Interesse geweckt hatte, mich selbst in dieses Abenteuer zu stürzen: Spanien, seine Einwohner und mich selbst kennenlernen. Warum nicht? Weg vom Schreibtisch, rein in die Natur. Und so machte ich mich auf den Weg von Burgos nach Santiago de Compostela – zur Kathedrale, dem Ziel aller Jakobsweg-Pilger.
Grenzen austesten auf dem Camino
Meine Reise auf dem französischen Jakobsweg – von Pilgern aller Nationen ehrfürchtig Camino, spanisch für Weg, genannt – trat ich nicht wie viele andere aus religiösen Gründen an. Ich wollte über meine Zukunft nachdenken, ein Land auf eine andere Art kennenlernen und meine körperlichen Grenzen austesten. Immerhin trug ich zehn Kilo Gepäck 500 Kilometer durch die heiße Landschaft Nordspaniens. Nach einigen Tagen war es dann auch schon so weit: Die Schulter schmerzte, die Füße wurden dick und der Sonnenbrand auf den Waden machte sich bemerkbar. Aber trotzdem gab ich nicht auf.
Körperliche und geistige Herausforderungen
Schnell hatte ich mich an das Klacken meines hölzernen Wanderstocks gewöhnt, das mir bewusste machte, wie gut ich vorwärtskam. Jeden Abend schnitzte ich eine kleine Kerbe in das helle Holz und zählte so die Tage meiner Pilgerreise. Der tägliche Blick auf die Karte verriet mir, dass die Entfernung nach Santiago de Compostela immer geringer wurde – trotz Müdigkeit und Muskelkater. Spätestens nach der zweiten Woche aber wurde die körperliche Belastung, an die ich mich doch gewöhnte, durch die geistigen Herausforderungen abgelöst. Während ich am Tag auf dem Camino lief – über Hochebenen, auf staubigen Wegen, durch Eukalyptuswälder – hatte ich eine Menge Zeit zum Nachdenken: über Freundschaften, meine Ziele im Leben und natürlich auch über meine berufliche Zukunft. Auf dem Jakobsweg traf ich wohlüberlegte Entscheidungen, die ich nach meiner Rückkehr umsetzen wollte. Wichtige Entscheidungen, für die ich im Alltag zu Hause wohl weniger Zeit gehabt hätte.
Alles auf sich zukommen lassen
Auf dem Camino war ich angenehm unabhängig: aufstehen und loslaufen – immer Richtung Westen. In welchem Ort, in welcher Herberge ich übernachtete, entschied ich spontan. Es gab keinen Etappenplan, kein festes Datum, an dem ich in Santiago de Compostela ankommen wollte. Ich ließ alles auf mich zukommen. Nicht nur vom Zeitdruck hatte ich mich befreit, auch sonst hatte ich mich auf das Nötigste beschränkt: keine Kosmetik, wenig Kleidung, kein Internet. Ich wurde genügsamer und anspruchsloser. Ich habe gelernt, Kleinigkeiten zu schätzen. Und plötzlich ist ein Stück Schokolade das Highlight des Tages – ernähren sich die Pilger doch sonst hauptsächlich von Nudeln, Bananen und Weißbrot.
Das Pilgerleben: wandern, Wäsche waschen, schlafen
Ich hatte mich sehr an das Pilgerleben gewöhnt. Meinen Schlafsack konnte ich innerhalb von nur einer Minute einrollen und im Rucksack verstauen. Jeden Nachmittag hing ich meine frisch gewaschene Pilger-Kleidung in die warme, spanische Sonne. Und abends schlief ich sofort erschöpft aber glücklich ein, wenn pünktlich um 22 Uhr die Lichter in der Herberge ausgeschaltet wurden. Als die letzten 100 Kilometer bis Santiago de Compostela anbrachen, wurde ich etwas traurig, weil meine Zeit als Pilgerin bald vorbei sein würde. Also genoss ich die letzten Tage, in denen ich in meinen bequemen Wanderstiefeln über Felsen kletterte, über Steine in kleinen Bächen sprang und Schritt für Schritt der Kathedrale von Santiago de Compostela näher kam.
Das Ende meiner Pilgerreise
Nach fünf Wochen kam dann der Tag, an dem ich in Santiago de Compostela eintraf. Ich wurde immer langsamer, als ich durch die engen Gassen der alten Stadt schritt, um das Ende meiner Pilgerreise hinauszuzögern. Im Morgengrauen trat ich auf den Platz vor der gewaltigen Kathedrale. Kaum ein Mensch zu sehen – nur vier junge Pilger, einer von ihnen hielt eine Geige und spielte leise ein langsames Lied. Ein würdiges Ende meiner intensiven Reise. Ich atmete tief ein und musste vor Rührung weinen. Geschafft! Ich hatte meine Pilgerschaft beendet – voller unvergesslicher Erlebnisse und Erfahrungen, die mich noch lange begleiten werden.
Mutig den ersten Schritt gehen
Rückblickend habe ich mehr geschafft, als ich mir eigentlich zugetraut hatte – ich war mir zu Beginn der Reise nicht wirklich sicher, ob ich überhaupt in Santiago de Compostela ankommen würde. Auf dem Camino habe ich gemerkt, dass ich belastbarer und selbstbewusster bin, als angenommen. Um den Jakobsweg zu laufen, benötigt man keine sportlichen Erfahrungen als Wanderer. Es braucht lediglich Mut, um den ersten Schritt zu gehen und bis zum Ziel durchzuhalten. So kann jeder nach seinen eigenen Möglichkeiten den Jakobsweg schaffen, denn wie mir ein erfahrener Pilger auf der Hälfte meines Weges gesagt hat: „Jeder geht seinen eigenen Camino.“
Fotos: Sarah-Charline Meiners
Eigentlich ist Sarah ein Großstadt-Kind und ausgiebiges Wandern mag sie überhaupt nicht, sie fährt viel lieber Rad. Umso mehr war das Pilgern eine selbst gewählte Herausforderung für Sarah, um Zeit und Ruhe zum Nachdenken zu haben. Fern vom Schreibtisch, fern vom Alltag, auf anderen Wegen. Auf dem Jakobsweg hat Sarah sich dafür entschieden, ein Master-Studium in Marketingkommunikation zu beginnen. Nebenbei arbeitet sie als Freie Texterin.