Um wirklich in ihre Kraft zu kommen, müssen Frauen verstehen, dass wir nach wie vor in einem Patriarchat leben, meint die Anthropologin, Schamanin und Geschäftsführerin der Coaching Spirale Berlin GmbH, Alexandra Schwarz-Schilling. Was Frauen noch tun können, um selbstbewusst und erfüllt zu leben und wie die Natur und indigene Völker dabei helfen können, erklärt sie uns im Interview.
VIAMIE: Was bedeutet für dich Weiblichkeit?
Alexandra Schwarz-Schilling: Weiblichkeit ist für mich ein ganzer Korb an Qualitäten oder Eigenschaften, die in ihrer Gesamtheit Weiblichkeit dann einigermaßen beschreiben. Dazu gehört vor allem Verbundenheit mit dem großen Ganzen.
Leben entsteht und wächst in unserem Schoß. Frauen sind die Trägerinnen des Lebens. Religio (lateinisch religare) bedeutet „angebunden sein – losbinden – wieder zurückbinden“ das ist genau der Prozess, den wir als Menschen durchlaufen. Wir sind angebunden im Mutterleib, dann werden wir geboren und losgebunden (die Nabelschnur wird durchtrennt) und dann ist es an uns, uns immer wieder zurück zu verbinden mit der heiligen Quelle, die im Inneren liegt. Für Frauen findet diese Rückverbindung in ihrem Schoß statt, denn dort ist der Ursprung menschlichen Lebens. Analog zum Gottesglauben sollten wir statt Gott unsere weibliche Kraft verehren und uns bewusst sein, welche Power in unserem Schoß liegt.
Für Männer liegt der Ursprung ebenfalls im Schoß der Frau. Über die Sexualität mit der Frau haben auch sie die Möglichkeit, sich immer wieder zurück zu verbinden. Leider sind diese Zusammenhänge vollkommen in Vergessenheit geraten – schlimmer noch: verdreht und entstellt worden.
Die Verbundenheit mit dem eigenen Schoß zu kultivieren, ist für mich die wichtigste weibliche Qualität. Damit meine ich, dass der Schoß die schöpferische Quelle der Frau ist. Und zwar völlig unabhängig davon, ob man als Frau Kinder bekommt oder nicht. Diese Rückverbindung mit dem Schoß ist die Rückverbindung mit dem großen Ganzen. Und das große Ganze ist die natürliche Welt vom Erdkern bis hin zu den Grenzen des Universums. Aus dieser Rückverbindung entsteht Fülle und Überfluss für alle.
VIAMIE: Was können Frauen tun, um erfüllt und selbstbewusst zu leben?
Alexandra Schwarz-Schilling: Damit Frauen erfüllt und selbstbewusst leben können, ist es meiner Meinung nach entscheidend, unsere Menschheitsgeschichte zu kennen und die Zusammenhänge zu verstehen. Wir leben in einem Patriarchat – ob wir das nun wahrhaben wollen oder nicht. Und ja, natürlich ist es bei uns heute nicht mehr die schlimmste Form des Patriarchats. Aber solange wir nicht erkennen und verstehen, wie tief das patriarchale Denken in unserer Vorstellungs- und Gedankenwelt verankert ist und als normal angesehen wird, haben Frauen wenig Möglichkeit, wirklich in ihre Kraft zu kommen.
Nicht umsonst hat das Patriarchat als wichtigstes Ziel, Frauen aus der spirituellen Sphäre zu verbannen. Sämtliche monotheistischen Religionen verbannen und dämonisieren das Weibliche, denn genau dort liegt die große Kraft: im Weiblichen.
Frauen können ihre eigene Schöpferkraft erst bewusst annehmen, wenn sie um die Zusammenhänge wissen und verstehen, was es sie kostet, diese Schöpferkraft weiter zu verleugnen.
Eine Möglichkeit, die weibliche Schöpferkraft anzunehmen ist, seine Sexualität frei und selbstbestimmt zu leben. Aber es geht weit über Sexualität heraus. Es geht darum, dass Frauen ihre Macht anerkennen und lieben lernen. Wenn Sie sie verleugnen, entsteht viel Leid in Beziehungen, für sie selbst und für die Welt.
VIAMIE: Was würdest du Frauen raten, die typisch männliche Qualitäten wie Durchsetzungskraft und zielgerichtete Aktivität fast ausschließlich durch den Partner leben, diese aber selbst integrieren wollen?
Alexandra Schwarz-Schilling: Ich würde ihnen raten, sich tief in ihrem Schoß zu verankern und die Verbindung zur Erde zu kultivieren. Nur mit dieser gelebten Verbindung haben wir einen „festen Stand“ und damit die Möglichkeit kraftvoll und durchsetzungsstark in der Welt zu agieren.
Ich würde ihnen außerdem raten sich selbst zu fragen, wozu sie lieber den Mann als Retter und Held erleben und sich selbst als Prinzessin klein halten wollen. Ich würde ihnen raten, darüber wach zu werden, wie viel Leiden sie sich selbst zuführen und dadurch in die Welt bringen. Wir bieten dazu auch ein Seminar an: „Die Kunst eine Frau zu sein“.
VIAMIE: Wie kann die Natur dazu beitragen, dass wir als Frauen Kraft schöpfen?
Alexandra Schwarz-Schilling: Die Natur ist unsere spirituelle Kraftquelle, ob wir das nun wissen oder nicht. Deshalb ist jede bewusste Verbindung mit der natürlichen Welt unterstützend.
Das Patriarchat hat den Geist (z. B. Gott, Himmel) und die Materie (z. B. Erde, Frauen, Sexualität) voneinander getrennt, den Geist (spirit) erhöht und die Materie abgewertet. Dies ist eines der Hauptanliegen des Patriarchats – mit den schlimmsten Konsequenzen.
Wir unterliegen heute der Illusion der Getrenntheit, anstatt die Verbundenheit aller natürlichen Systeme miteinander als selbstverständlich zu erfahren. Ein Aufenthalt in der Wildnis – solange es noch welche gibt – ist eine der wenigen Möglichkeiten, sich ganz und gar als Teil des Lebens zu „erleben“.
Wir bieten immer wieder diese Möglichkeit mit Erfahrungsräumen wie dem Encontro Camp auf Living Gaia (unserem Heilungsbiotop) in Brasilien. Es findet vom 20 – 28. Juli 2019 statt. Wir laden alle Frauen und Männer, die sich nach Weiterentwicklung und Naturverbundenheit sehnen und Interesse an kulturellem Austausch mit einem indigenen Volk (in diesem Fall die Huni Kuin) haben, herzlich ein. Am 14.5 veranstalten wir einen Informationsabend in der Coaching Spirale und freuen uns über Interessierte.
VIAMIE: Was können wir von indigenen Kulturen wie den Huni Kuin lernen?
Alexandra Schwarz-Schilling: Von indigenen Kulturen wie den Huni Kuin können wir lernen, indem wir einfach in ihrer Gegenwart sind und sie erleben. Erleben, wie sie sich bewegen, wie sie mit ihren Kindern sind, wie sie sich weigern, unsere Konditionierungen zu bedienen. Wir können durch sie lernen, wie naturverbundenes Sein aussieht und sich anfühlt.
VIAMIE: Was tust du, um dich selbst zu verwirklichen und der Erde etwas zurückzugeben?
Alexandra Schwarz-Schilling: Ich identifiziere mich mit dem Gesamtorganismus Erde, indem ich mich selbst als eine ihrer 10 Milliarden Gehirnzellen ansehe.
Ein Embryo macht im Mutterleib verschiedene Stufen der Evolution des Lebens durch. Zunächst entwickelt er Kiemen, dann erst eine Lunge, usw. Das Gehirnzellenwachstum beim Embryo ist exponentiell und hört bei 10 Milliarden plötzlich auf. Anschließend vernetzen sich die Gehirnzellen nur noch.
Ich sehe uns Menschen als die Gehirnzellen der Erde und als Versuch der Evolution, dem Gesamtorganismus Erde ein Bewusstsein zu ermöglichen.
Wir sind exponentiell gewachsen, bald werden wir 10 Milliarden Menschen sein. Anschließend geht es darum, dass sich diese Gehirnzellen miteinander vernetzen. Dieser Prozess ist bereits im Gange und wird immer schneller.
Wir sind nun im Prozess der Bewusstwerdung und dafür ist es notwendig, dass wir verstehen, dass wir ein Teil dieses Gesamtorganismus sind und nicht ein separiertes Einzelwesen. Ich bemühe mich, für den Gesamtorganismus zu fühlen und wahrzunehmen sowie zu entscheiden und zu handeln. Ich kann mir keine schönere Art sich selbst zu verwirklichen vorstellen.
VIAMIE: Was bringt Dich zum Lachen?
Alexandra Schwarz-Schilling: Menschen und Tiere, die ich liebe.
Alexandra Schwarz-Schilling studierte Anthropologie, Wirtschaftswissenschaften und Psychologie. In den 1980er Jahren bildete sie sich in Schamanismus bei Sun Bear in den USA aus. Sie arbeite in Moskau, London, Paris, Indien, Japan, bevor sie 1996 ihre Leidenschaft im Coaching fand.
Seit 2002 ist sie Geschäftsführerin und Gründerin der Coaching Spirale GmbH in Berlin. Sie bietet neben Coaching für Führungskräfte eine fundierte und transformative Coaching-Ausbildung an.
Als Mutter dreier Kinder beschäftigte sie sich intensiv damit, was Mutterschaft und Weiblichkeit in unserer Kultur bedeuten. Sie ist Autorin zweier Bücher zum Thema Beziehungen im Patriarchat und wie wir sie aktiv gestalten können. Sie hält Vorträge über die Polarität der Geschlechter und die Auswirkungen des Patriarchats auf die kollektive Wahrnehmung von Liebe, Sexualität, Körper und Natur. Außerdem ist sie Vorsitzende der NGO CSSP – Berlin Center for integrative Mediation.
2011 gründete sie Living Gaia, ein ganzheitliches Heilungsbiotop in Brasilien. Seit 2013 arbeitet sie mit dem indigenen Volk der Huni Kuin aus Acre (Amazonas) in Brasilien zusammen. Heute liegt ihr Forschungsschwerpunkt auf der Heilung der Beziehung zwischen Mensch und Natur.